Zur aktuellen Diskussion um Migration und die Erpressung des türkischen Präsidenten Erdogan
Menschen auf der Flucht, die von diversen Politikern und Medien allen Ernstes als „Feinde“ bezeichnet werden; schockierende Bilder von Frauen und Kindern, die in „Flüchtlingslagern“ bei Kälte im Dreck und auf Müllbergen dahinvegetieren; Schießübungen und der Aufruf zum Waffeneinsatz nicht nur an der EU-Außen- sondern an der österreichischen Grenze …
Was sich derzeit rund um die Diskussion, wie die EU-Staaten mit den Recep Tayyip Erdogan Richtung EU losgeschickten seit Jahren auf der Flucht befindlichen Menschen, umgehen soll, konterkariert jegliche humanitäre Grundhaltung.
Haben die großen europäischen Staatenlenker oder hat auch Bundeskanzler Sebastian Kurz allen Ernstes geglaubt, mit dem „Deal“ der EU mit der Türkei – 6 Milliarden Euro zahlt die EU, damit Millionen von Flüchtlingen unter anderem aus Syrien in der Türkei bleiben – könne man sich quasi freikaufen von jeglicher Verantwortung Fluchtursachen zu bekämpfen und damit Migrationsbewegungen zu verhindern? Offenbar schon! Ansonsten hätten sich die EU-Staaten in den letzten fünf Jahren doch wohl ernsthafter um nachhaltige Lösungsansätze bemühen müssen. Allein, passiert ist in dieser erkauften Atempause so gut wie Nichts! Leider auch nicht unter der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft! Und bei aller Verachtung für das unmenschliche Vorgehen von Erdogan, der Menschen, darunter Frauen und Kinder, für seine politischen Zwecke missbraucht, es sind die Versäumnisse und die Untätigkeit dieser „Aus den Augen, aus dem Sinn-Politik“ der letzten Jahre, die die EU, die Österreich jetzt schmerzlich einholt!
Es war vor genau fünf Jahren, als ich bei der Eröffnung eines Stützpunktes des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) in Klagenfurt dem damaligen Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz konkrete und nachhaltige Lösungsvorschläge zur Bekämpfung von Fluchtursachen gemacht habe. Von der Notwendigkeit eines „Marshall-Planes“ für die nordafrikanischen Länder bis hin zur Einrichtung von Charter-Cities und Hotspots an den EU-Außengrenzen. Nichts davon wurde Gehör geschenkt. Mehr noch, anstatt sich mit den Fragen von Fluchtursachen, Migration, Asyl und notwendiger Integration im Interesse aller – sowohl der betroffenen Flüchtlinge als auch der österreichischen Bevölkerung – verantwortungsbewusst und kritisch auseinanderzusetzen, wurden seitens der Bundesregierung(en) Hilfsmittel, Mittel für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt, Integrationsmaßnahmen zurückgefahren und gleichzeitig das Bild von Flüchtlingen als alleinverantwortlicher Sündenbock erzeugt, gepaart mit der Selbstinszenierung als „Routenschließer“.
Diesen Vorwurf müssen sich die österreichischen Bundesregierungen der letzten Jahre gefallen lassen.
Ich bekenne mich auch zur selbstkritischen Ansicht, dass sich die SPÖ den Vorwurf, keine klare Position in der Asyl-, Migrations- und Integrationsthematik zu haben, viel zu lange gefallen hat lassen.
Denn, die SPÖ hat ihre Position im sogenannten Doskozil-Kaiser-Papier nach intensiver Arbeit festgelegt.
Ja, als einer der Mitautoren der Arbeitsgruppe bekenne ich mich zu den Menschenrechten und internationalen Konventionen.
Und niemals werde ich es zur Kenntnis nehmen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil sie aus ihrer Heimat vor Krieg, Tod, Vergewaltigung flüchten mussten. Mich lassen Bilder von mit Tränengas beschossenen Frauen und Kindern, von Kindern die teilweise getrenntvon ihren Eltern in Fetzen auf Müllhalden in Flüchtlingslagern „hausen“ müssen, von Schiffen, die Schlauchboote mit geflüchteten Menschen auf hoher See mit spitzen Lanzen attackieren, Bilder welche die leblosen Körper, die an Ufern Italiens, Griechenlands oder anderswo angeschwemmt werden, darunter hilflose Kinder, nicht unberührt. Populismus hin oder her: Aussagen wie „selbst schuld, Hauptsache sie haben es nicht nach Europa geschafft“, sind herzlos und inhuman. Leider sind aber genau solche und ähnliche Sätze immer wieder und sogar in zunehmender Zahl zu hören. Für mich ein Alarmsignal und ein Armutszeugnis gleichermaßen. In jedem Fall aber ein Auftrag, etwas dagegen zu unternehmen, gegen diese Entmenschlichung, die hauptsächlich nicht auf persönlichen Erfahrungen der Einzelnen sondern auf Gerüchten, Schlagzeilen, Ängsten und politischer Instrumentalisierung beruhen.
Warum können EU-Staaten wie Österreich nicht zumindest Wohncontainer für die Flüchtlingslager zur Verfügung stellen? Warum nicht versuchen, im Rahmen einer EU-weit akkordierten humanitären Aktion, Kindern und Frauen zu helfen, sie aus ihrer Hölle wegzuholen? Es wenigstens ernsthaft zu prüfen, statt kategorisch abzulehnen, ist das Mindeste, was erwartet werden darf.
Die SPÖ hat die für langfristige Lösungsansätze der Migrationsthematik notwendigen Maßnahmen im besagten Doskozil-Kaiser-Papier deutlich benannt. Beispielsweise die Schaffung von unter UNO-Mandat geschützten Sicherheitszonen und in diesen die von mir vorgeschlagenen Charter-Cities, also der Bau regelrechter, geschützter Städte, in denen Flüchtlinge zur Schule gehen, arbeiten, usw., sie sich Kompetenzen aneignen, um bei einer Rückkehr in ihre Heimat diese aufzubauen und moderne Lebensgestaltung zu ermöglichen. Dass weite Teile der Politik, sowohl der europäischen als auch der österreichischen, in ihrem Engagement für derartige Sicherheitszonen und Charter-Cities, sagen wir einmal, deutlichen Steigerungsbedarf haben, sei hier auch klar angemerkt. Ähnliches gilt für die bereit gestellten Mittel für Entwicklungshilfe, die gemeinsame Kontrolle der europäischen Außengrenze oder jedenfalls festzulegende Quoten für alle EU-Mitgliedstaaten.
Der gegenwärtige Zustand, dass sich viele Länder einer Quote also einer solidarischen Verteilung von AsylwerberInnen in Europa entziehen und in einer unsolidarischen Trittbrettfahrerhaltung verharren, kann die EU nicht länger hinnehmen. Im Rahmen der EU-Budgetverhandlungen muss auch von Österreich darauf gedrängt werden, dass Mittel aus EU-Strukturfonds an die Bereitschaft AsylwerberInnen aufzunehmen ebenso wie Klimaschutzziele einzuhalten, gekoppelt werden. Wer die Solidarität in Frage stellt, darf auch nicht mit der Solidarität anderer rechnen. Um die Bereitschaft zu einem Quotensystem zu erhöhen, sollte zudem ein Europäischer Solidaritätsfonds eingerichtet werden, der Gemeinden, die AsylwerberInnen aufnehmen, finanziell unterstützt.
Abschließend nur zu Erinnerung und zusammengefasst noch einige weitere wichtige und ebenfalls von der SPÖ bereits in der Vergangenheit präsentierte Eckpunkte zum Thema Asyl:
1. Asyl kann nur in Hot Spots der EU beantragt werden: Hot Spots sind Bereiche, die den Flüchtlingen einen menschenwürdigen Aufenthalt für die Dauer bis zur Entscheidung über eine Zulassung zum Asylverfahren gewährleisten. Diese sind an den EU-Außengrenzen – und falls nötig – entlang der Fluchtrouten einzurichten. Asyl darf ausschließlich in diesen Hot Spots beantragt werden. Sollten Flüchtlinge außerhalb aufgegriffen werden, sind sie unverzüglich in den nächstgelegenen Hot Spot zu überführen. Bei Zulassung zum Asylverfahren erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat (Transport durch EU-Einrichtung), der durch eine verbindliche Quote festgelegt ist. Gegen die Aufteilung gemäß der Quote ist kein Rechtsmittel durch den Asylwerber zulässig (durch EU-Verordnung festzulegen). Bei negativem Entscheid, Rückführung in das Herkunftsland oder sicheren Drittstaat.
2. Rückführungsabkommen: Außen- und Innenministerium sind gefordert, sich unverzüglich mit Amtskollegen in der EU auf eine einheitliche aktuelle und umfassende Liste von Staaten zu einigen. Der erste Schritt zu einer nachhaltigen Entlastung Österreichs liegt in einer gemeinsamen europäischen Liste von Staaten mit Rückführungsabkommen. Damit hätte man europaweit ein Instrument zur Reduzierung der Zahl der Wirtschaftsflüchtlinge.
3. Mehr Tempo bei Asylverfahren: Asylverfahren müssen im Normalfall in maximal 6 Monaten zu bearbeiten sein. Die dafür notwendigen Personalbesetzungen hat die Bundesregierung zu organisieren und zu finanzieren
4. Einheitliche Asylstandards in Europa: Auf Ebene der zuständigen Minister sind einheitliche Asylstandards für die EU-Mitgliedsstaaten festzulegen. Es muss für Kriegsflüchtlinge überall vergleichbare Bedingungen (Chancengleichheit) geben – das reicht von der Art der Unterbringung, über die Dauer der Asylverfahren bis hin zur finanziellen Unterstützung für Flüchtlinge im Asylverfahren und danach bei positivem Bescheid – die finanzielle Unterstützung ließe sich beispielsweise durch eine einheitliche Formel errechnen (etwa indem man sie an BIP, Lebenshaltungskosten und Durchschnittseinkommen koppelt). Zusätzlich muss europaweit gesetzlich geregelt werden, dass ein Flüchtling, der einem Land zugewiesen wird und dort Sozialleistungen in Anspruch nimmt, nicht in ein anderes Land seiner Wahl weiterreisen kann – tut er das doch, müsste es klare Abschiebebestimmungen (in sein Asylland) geben.
5. Talente-, Befähigungsprüfung: Höhere Qualifizierungen von Flüchtlingen sind zu prüfen und für eine entsprechende Tätigkeit in Österreich anzuerkennen – nötigenfalls müsste es die Möglichkeit zu kurzen Ergänzungsstudien oder Aufschulungen geben. Warum soll jemand der in Syrien z.B. als Natur- oder Sprachwissenschafter oder als Fachmann in einem handwerklichen Beruf tätig war, in Österreich als Hilfsarbeiter arbeiten?
Abschließend: Es muss klar sein, dass nur eine gemeinsame europäische Asylpolitik eine Chance bietet, diese Fluchtbewegungen vernünftig zu steuern. Insellösungen in Form einzelstaatlichen Vorgehens, sind keine probaten Mittel. Wenn 27 EU-Staaten sich auf eine diesbezüglich gemeinsame Vorgehensweise, Gesetzeslage und Aufgabenstellung einigen – wie das beispielsweise im Falle der Bankenrettungen möglich war – ist eine Erfolgsaussicht gegeben, denn hier geht es um Menschen.
Peter Kaiser, 5.3.2020
Hinweis: Zum diesem Thema gibt es auch eine Podcast KOMPASS-Folge von mir.