Europa ist eine Glaubensfrage. 
Kärnten hat die richtige Antwort.

Jetzt ist schon wieder was passiert. Der berühmte erste Satz vieler Krimis von Wolf Haas passt auch als Start für meine Gedanken zu Europa. Viele von Ihnen wissen, dass dieses Thema eine Herzensangelegenheit für mich ist. Aber ich weiß auch, dass dieses Thema viele Menschen immer erst dann wirklich berührt, wenn etwas Schlimmes geschieht. Als ich hier das letzte Mal über Europa geschrieben habe, war solch ein trauriger Anlass. Ausgerechnet zu Österreichs Jubiläum von 25 Jahren in der EU kam es zum „Brexit“, ist Großbritannien aus der Europäischen Union ausgetreten. Ja, das ist jetzt schon fast zweieinhalb Jahre her. Aber es kommt uns viel länger vor. Es erscheint uns wie aus einer anderen Zeit. Weil es vor Corona war, dieser Pandemie, die alle anderen Themen so lange überschattet hat. Eine Krise, die uns aber auch gezeigt hat, wie sehr die Nationalstaaten in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden sind. Die Krankheit kennt noch weniger Grenzen, als wir sie durch das Schengen-Abkommen ohnehin schon fast vergessen haben lassen. Doch genau diese Grenzbalken haben wir vor bald sieben Jahren erst wegen der Flüchtlinge wieder errichtet. Und kaum glaubten wir, sie endlich wieder öffnen zu können, kam Covid. Und kaum glaubten wir, auch damit das Schlimmste überstanden zu haben, hat Russland die Ukraine angegriffen. Eine Grenzüberschreitung, wie gerade wir in Kärnten sie in Europa nicht mehr für möglich gehalten haben. Wir dachten mehr noch als andere, dass alle in Europa die Lektion „Nie wieder Krieg“ spätestens seit den Jugoslawien-Kriegen endgültig gelernt hatten. Ein Jahrzehnt mit diesem schrecklichen Krieg direkt vor unserer Haustür sollte Mahnung genug gewesen sein. Doch jetzt ist es schon wieder passiert. Und plötzlich ist Europa nicht nur ein abgehobenes Thema für hochgestochene politische Diskussionen, sondern eine Herzensangelegenheit. Denn wie anders, als ein geschlossenes und einiges Europa, sollten wir der neuerlichen Barbarei vor unserer Haustür gegenübertreten. Das gilt nicht nur für die kleineren Staaten der Union, wie Österreich. Da gilt auch für die Großen, für Frankreich und Deutschland. Und wir bemerken dabei, wie sehr uns Großbritannien fehlt.
Lviv, das früher Lemberg hieß, ist von Villach gleich weit entfernt wie Brüssel – 840 Kilometer Luftlinie. Es hat in der Monarchie zu Österreich gehört. So wie Österreich heute zur Union gehört. So wie Kärnten immer noch mehr vom Rand ins Zentrum der EU rückt. Weil sie sich genau dorthin erweitert hat, wo vor wenigen Jahrzehnten der vermeintlich letzte Krieg in Europa war. Doch jetzt ist schon wieder was passiert. Russland hat vor Österreichs Haustür im Osten das Tabu auf grausige Art gebrochen. China dehnt seine wirtschaftlichen Interessen bis vor Kärntens Haustür im Süden aus. Die neue Seidenstraße soll erst in Triest enden. Der weitere Landweg geht durch Kärnten. Das Logistikzentrum in Fürnitz wird eine der wichtigsten europäischen Drehscheiben dafür. An der Schnittstelle der europäischen Kulturen und Sprachen, des Germanischen, Romanischen und Slawischen entsteht eine neue Wirklichkeit. Die Großinvestition des digitalen Weltkonzerns Infineon in Villach zeigt, dass dies nicht nur Sonntagsreden von Provinzpolitikern sondern ökonomische Fakten sind.
Österreich insgesamt und Kärnten ganz besonders geraten politisch wie wirtschaftlich zwischen die Blöcke von Weltmächten, die sich neu formieren. Die Welt wird nach diesem Krieg nicht mehr die gleiche sein. Europa auch nicht. Österreich auch nicht. Kärnten auch nicht. Das klingt alles sehr bedrohlich. Und das ist es auch. Doch in all dem liegt auch eine historische Chance für unser Land. Die Chance heißt Europa. Wir rücken vom Rand ins Zentrum Europas. Das darf aber nicht nur eine politische Grenzverschiebung sein. Das muss eine Entgrenzung in unseren Köpfen bewirken. Eine Entgrenzung, wie wir sie regional, noch besser interregional am besten bewältigen. Deshalb heißt unsere Europaregion, deren Präsident ich derzeit bin, mit Friaul Julisch Venetien und Veneto Senza Confini – ohne Grenzen. Deshalb versuchen wir mit der Euregio, die europäische Vielfalt und Einheit auch emotional an unsere Bevölkerung zu vermitteln. 
Die Idee von gemeinsamen Olympischen Spielen ist ein kleiner, aber wichtiger Baustein dazu. Allein das gemeinsame Nachdenken über eine solche Möglichkeit bringt uns schon weiter. Die Wege entstehen beim Gehen. Olympia 2034 – das ist ein weiter Weg. Doch dabei halte ich es wie einst Bruno Kreisky: Lassen Sie uns ein Stück des Weges gemeinsam gehen. Vielleicht erkennt die Bevölkerung, dass mehr Chancen als Risiken in einem solchen Projekt liegen – wenn wir es in der richtigen Dimension angehen. Und die Richtung dieses Weges ist auch abgesehen von der Jahreszahl klar. Klein, aber fein. Small is beautiful. Zurück zu den Wurzeln. Gemeinsam. Deshalb werden wir viel planen, viel informieren. Wenn Olympia kommt, dann müssen es Spiele der Bürgerinnen und Bürger im Herzen Europas sein, getragen von den Nationalen Olympischen Komitees Italien, Slowenien und Österreich. 
Weg vom olympischen Größenwahn. Zurück zum menschlichen Maß. So wie wir die Zukunft insgesamt in Kärnten gestalten wollen. Ohne Scheu vor den ganz großen Aufgaben, aber immer mit Augenmaß. So wie es Kärnten seit dem EU-Beitritt Österreichs mit seinem Verbindungsbüro (VBB) in Brüssel betreibt. Bereits seit 2005 teilen wir uns die Räume mit den Vertretungen von Friaul Julisch Venezien und Istrien sowie dem Kanton Sarajevo. Ein Mehrregionenhaus mit europäischem Mehrwert: Denn diese Regionen vertreten mehr als zwei Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Sie nutzen Synergien, langjährige Partnerschaften und verschiedenste Netzwerke zum gemeinsamen, stärkeren Auftreten vor den europäischen Institutionen. 
Denn Europa ist kein Traum, keine Utopie, keine Selbstverständlichkeit. Es ist tagtägliches Bemühen, eine tägliche Herausforderung. Europa muss auch global Position beziehen für Humanität, Nachhaltigkeit und gerechtes Wirtschaften. Das gilt im Großen für die 27 EU-Staaten als Gemeinschaft. Eine Wertegemeinschaft, die angesichts des Kriegs in der Ukraine eine ihrer härtesten Bewährungsproben besteht. Das gilt aber auch im Kleinen, für unsere Region im Herzen Europas. Das VBB ist ein Hebel, um Kärntens Interessen bei der EU-Gesetzgebung zu wahren. Es betreibt Lobbying im Besten Sinn – bei EU-Kommission, EU-Parlament und im Rat der EU. Einer seiner größten Lobbying-Erfolge ist die Aufnahme der Baltisch-Adriatischen Achse in den Kern der Transeuropäischen Verkehrsnetze. Dabei gibt es immer wieder Verzögerungen. Und wir ärgern uns natürlich, dass soeben die Fertigstellung des Semmeringtunnels verschoben wurde. Doch ohne die Ko-Finanzierungen seitens der EU wären Jahrhundertprojekte wie die Koralmbahn nicht möglich. Ich glaube, es ist noch viel zu wenig bewusst, welch enormen wirtschaftlichen Fortschritt es für Südösterreich, aber auch die Europaregion Senza Confini bringt, wenn Klagenfurt und Graz auf 45 Minuten Zugfahrt zusammenrücken. Wenn in weiterer Folge Wien in zweieinhalb Stunden per Bahn erreichbar ist. Das wirkt nur nach einem rein österreichischen Projekt. Es ist in Wirklichkeit aber eine europäische Lösung, von der wir profitieren.
Während das VBB als verlängerter Arm der Kärntner Landesregierung in Brüssel ist, bin ich als Landeshauptmann federführend in zwei Fachkommission des europäischen Ausschusses der Regionen – für Wirtschaft (ECON) sowie für Sozialpolitik, Bildung, Arbeit, Forschung und Kultur (SEDEC). Ich wurde dabei zum Berichterstatter für die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU ernannt. Die Kärntnerinnen und Kärntner wissen, wie sehr mir dieses Thema am Herzen liegt. Deshalb freut es mich besonders, dass meine Stellungnahme dazu vom Ausschuss der Regionen mit großer Mehrheit verabschiedet wurde.
Denn wenn wir jemandem erklären, wir seien Europäer, gar noch „überzeugte Europäer“, so wollen wir damit eher weniger unsere geographische Herkunft als vielmehr eine besondere Geisteshaltung zum Ausdruck bringen. Eine Geisteshaltung, in der sich die Idee Europa widerspiegelt, die Idee von der Einheit des Kontinents, die Idee von der Vereinigung der Völker Europas in Frieden und Freiheit. Auch die Arbeitnehmer-Rechte sind ein Teil dieser Idee. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Wirtschaft und Arbeit derart als Yin und Yang, als die zwei Seiten einer Medaille derart gleichberechtigt verknüpft wie in Europa. Und wir profitieren nach wie vor davon. Trotz der Aufnahme einiger neuer Staaten seit Österreichs EU-Beitritt 1995 ist Kärnten immer noch ein Netto-Empfänger. Fast drei Milliarden Euro flossen bis 2020 aus dem Budget der Europäischen Union allein in unser Bundesland.
Europa ist eine Chance für uns alle! Deswegen ist es ungemein wichtig, dass Kärnten und unsere benachbarten Regionen über Staatsgrenzen hinweg gemeinsam ihre Interessen koordinieren, Stärken zusammen präsentieren und kooperieren. Ob im Bereich der Gesundheit, der Umwelt, der Wirtschaft oder des Verkehrs – viele Anliegen und notwendige Maßnahmen, die einzelne Regionen haben, überschneiden sich. Umso wichtiger für die Bevölkerung dies- und jenseits der Grenzen ist es, dass die Politik ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass wir gemeinsam mehr erreichen als alleine.
Ich sehe es als eine meiner wichtigsten Aufgaben als EU-Referent, mich mit allem Nachdruck für die Interessen Kärntens im Rahmen gemeinsamer europäischer Politik einzusetzen. Kärnten hat viele Vorzüge und Potenziale als zentrale Drehscheibe in Europa, entsprechende Unterstützungen und Förderungen sind für unser Land und auch die EU selbst ein Gewinn. So wurden Österreich in den jüngsten Genehmigungsrunden 92 Interreg-Projekte mit Italien und 43 mit Slowenien bewilligt – mit 22 bzw. 34 Kärntner Projektpartnern. Sie profitieren dabei von acht Millionen Euro aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung. Unterdessen flossen fast elf Millionen Euro unter dem Titel „Soziale Angelegenheiten“ aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums nach Kärnten. Das sind aber nur zwei Beispiele einer Unzahl an Förderungen, ohne die vieles in Österreich und Kärnten nicht entstehen könnte. Europa ist ein Möglichmacher. Deshalb greift das Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2022 auch Erkenntnisse aus der Pandemie auf und widmet der jungen Generation mit dem Vorschlag für ein Europäisches Jahr der Jugend besondere Aufmerksamkeit. Das Programm enthält aber auch die nächsten Schritte hin zu einem grüneren, digitaleren und resilienteren Europa nach der Corona-Krise. Es identifiziert globale Megatrends, aus denen strategische Handlungsfelder für die Union abgeleitet werden sollen. Das klingt verkopft und ist es am Anfang auch oft. Das klingt langwierig und ist es auch oft. Das klingt kompliziert und ist es auch oft. Aber weil Politik das Bohren harter Bretter ist, landet irgendwann verlässlich alles auf dem Boden der Tatsachen – vor unserer Haustür. Zum Beispiel jetzt mit der Überarbeitung der Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser. Oder mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act – einem Gesetzespaket, das die amerikanischen und asiatischen Technologie-Giganten zwingen wird, sich in Europa den europäischen Standards zu unterwerfen.
Als ich hier zuletzt im Jänner 2020 über Europa geschrieben habe, standen am Ende folgende Sätze über die EU: „Sie ermöglicht mir in der größten Friedensgemeinschaft zu leben und so meine Kinder in Sicherheit aufwachsen zu sehen. Das war nicht immer so. Auch wenn sich vor allem die Jüngeren nicht mehr daran erinnern: Es ist noch gar nicht so lange her, da war auch auf dem europäischen Kontinent, direkt vor unserer Haustüre Krieg. Wenige Stunden nach der slowenischen Unabhängigkeitserklärung am 25. Juni 1991 spielten sich an der Grenze zur Steiermark und zu Kärnten dramatische Szenen ab. Heftige Gefechte zwischen jugoslawischen und slowenischen Truppen mit zwei Toten am Grenzübergang Bleiburg versetzten die Kärntnerinnen und Kärntner in Schrecken. Es war und ist die EU, die dafür gesorgt hat, dass wir uns heute darüber keine Sorgen mehr machen müssen, dass wir in Frieden und Sicherheit leben und unsere Kinder ge- und beschützt aufwachsen können.“
Dieses Fazit wird seit dem 24. Februar leider von Russland widerlegt. Sein Krieg gegen die Ukraine ist ein Angriff auf Europa. Deshalb steht die Union so geschlossen zusammen wie schon sehr lange nicht mehr. Es geht um unsere gemeinsamen Werte. Wenn ein repressives Regime unser demokratisches System in Frage stellt, ist eine Grenze überschritten, die wir zu Recht verteidigen. Hier müssen die Balken herunter gelassen statt geöffnet werden. Da gibt es keine Neutralität. Ja, ich verwende dieses Wort bewusst, weil es ein österreichisches Tabu ist, die Neutralität infrage zu stellen. Aber es darf kein Tabu bleiben, darüber nachzudenken, wie diese Neutralität aktiv gelebt wird, wie sie sich verändern kann und muss, wenn sich rundherum alles verändert. Welche Aufgabe und Rolle kommt zukünftig einem neutralen Staat zu? Darüber werden wir in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren noch viel zu diskutieren haben. Denn rundherum hat sich alles verändert. Und wir haben uns verändert. Indem wir vor mehr als 27 Jahren ein Mitglied der Europäischen Union geworden sind. Das war eine der besten Entscheidungen der Zweiten Republik. Für Österreich. Für Kärnten. Aber damit ist es nicht getan. Wir müssen uns weiterentwickeln. Damit nicht wieder was passiert.
Ihr Peter Kaiser